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18. Juni

Ein syrischer Vater allein in Fürstenwalde: Unterstützung für Eltern und Schule in km2 Bildung

Wie viele Geflüchtete aus Syrien kam Ahmed Al-Ameri (Name geändert) im Jahr 2015 zunächst allein mit seinem ältesten Sohn Tariq (Name geändert) nach Deutschland. Die
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18.06.2020

Ein syrischer Vater allein in Fürstenwalde: Unterstützung für Eltern und Schule in km2 Bildung

Wie viele Geflüchtete aus Syrien kam Ahmed Al-Ameri (Name geändert) im Jahr 2015 zunächst allein mit seinem ältesten Sohn Tariq (Name geändert) nach Deutschland. Die Mutter und vier weitere Geschwister blieben in einem Flüchtlingslager in der Türkei, in der Hoffnung, später unter weniger Strapazen nachkommen zu können. Mithilfe der Angebote von km2 Bildung Fürstenwalde lernt Ahmed Al-Ameri nach und nach, wie er aktiv an der Bildung seiner Kinder teilhaben und sie in der Schule und zu Hause gut unterstützen kann.
Angekommen in Fürstenwalde, einer Mittelstadt im östlichsten Teil Brandenburgs, war Ahmed Al-Ameri plötzlich mit Haushalt und Erziehung nur auf sich gestellt – völlig entgegen der althergebrachten syrischen Rollenverteilung.

In der Schule fiel das Problem der geflüchteten Kinder, die allein mit ihren überforderten Vätern gekommen waren, schnell auf: Viele von ihnen hatten Schwierigkeiten im Unterricht, zeigten sich verhaltensauffällig, schlecht ernährt oder wiesen sogar Spuren von Misshandlung auf. Während zunächst nur Unterstützungsangebote für die Kinder entwickelt wurden, war bald klar, dass auch mit den Eltern, insbesondere den Vätern, gearbeitet werden muss.

Tariq, damals zehn Jahre alt, war ein besonderes Sorgenkind: Früh wurde er – groß für sein Alter und übergewichtig – zum Schreck der jüngeren Grundschulkinder, die er bedrohte, erpresste und beklaute. Sein Vater Ahmed, Anfang vierzig, war kaum weniger unbequem. Die arabischsprachigen Beratungsangebote der Pädagogischen Werkstatt von km2 Bildung nahm er zwar von Anfang an gern in Anspruch, aber vor allem, um sich zu jeder Tages- und Nachtzeit lauthals zu beschweren. Er fühlte sich grundsätzlich ungerecht behandelt, wenn Probleme seitens der Schule angesprochen wurden. Er schien viel zu trinken und seinen Sohn extrem autoritär, auch mit körperlicher Gewalt, zu erziehen. Mit den weiblichen Fachkräften der Pädagogischen Werkstatt und der Grundschule zu sprechen, verweigerte er ganz.

In km2 Bildung Fürstenwalde, der 2015 startete, standen Bildungspartnerschaften mit den Eltern und die Fort- und Weiterqualifizierung der Lehrkräfte von Anfang an im Fokus. Es entstanden ein herkunftssprachliches Elterncafé für arabisch- und russischsprachige Familien - die beiden größten migrantischen Gruppen in der Region -, ein deutschsprachiges Sprachlerncafé und zusätzliche Informationsangebote zu Themen, die die Eltern selbst wählen: Zu Kinderrechten, sozialen Medien oder Drogenprävention. Bei Bedarf übernimmt die Pädagogische Werkstatt auch die Vermittlung an die psychologische Familienhilfe, wie im Fall der Al-Ameris. Bundesweit ist der km2 Bildung Fürstenwalde einer von insgesamt 12 Programmorten, an denen in sozial benachteiligten Stadtvierteln öffentliche und private Einrichtungen langfristig in Netzwerken zusammenarbeiten, um allen Kindern und Jugendlichen gute Bildungschancen zu ermöglichen.

Ein langer Weg zur Bildungspartnerschaft

Als 2018 endlich die Mutter Al-Ameri mit den Geschwisterkindern nach Deutschland nachkommen durfte, schöpften die pädagogischen Fachkräfte Hoffnung, dass alles besser werden würde. Aber Tariqs Mutter, traumatisiert von dem Erlebten und überfordert von den neuen Lebensumständen in Deutschland, entwickelte bald eine depressive Erkrankung. Tariq brachte seiner Mutter keinen Respekt mehr entgegen, die Jahre der Trennung hatten Spuren hinterlassen.

Bei Ahmed Al-Ameri aber zeigten sich allmählich deutlich merkbare, wenn auch zaghafte Veränderungen. An den Beratungs- und Fortbildungsangeboten für Eltern der pädagogischen Werkstatt nahm er regelmäßig teil. Er baute Vertrauen zu den Mitarbeiter*innen auf, kommt nun oft und wendet sich mit allen schulischen und anderen Fragen an sie. Die Kommunikation mit ihm ist viel konstruktiver und zugewandter geworden, nicht mehr agressionsgeladen wie am Anfang. Auch mit den weiblichen Fachkräften spricht Al-Ameri mittlerweile. Im Schuljahr 2019/20 wurde als Fortführung der bewährten Elternarbeit das Sprachbildungsprogramm Rucksack an den beiden Schulen von km2 Bildung Fürstenwalde eingeführt, das Eltern in Peergroups den Schulstoff ihrer Kinder in der Herkunftssprache vermittelt, um sie beim Lernen besser unterstützen zu können. Ahmed Al-Ameri ist mit dabei. Und stolz, eine so aktive Rolle in der Schule zu spielen.

Seine Entwicklung geht Hand in Hand mit der vieler Lehrkräfte der Schule, die sich zunächst nicht auf die Lebenswelten insbesondere der geflüchteten Schüler*innen hatten einlassen wollen, aber über die zahlreichen Unterstützungs- und Fortbildungsangebote im Rahmen des km2 Bildung in den vergangenen Jahren einen deutlichen Wandel in ihrer Haltung vollzogen haben und so möglich machen, dass zwischen Eltern und Schule enge Bildungspartnerschaften entstehen können.

Für Tariq kommt das neue schulische Engagement seines Vaters zu spät, befürchten die betreuenden Fachkräfte. Er muss vielleicht auf die Förderschule wechseln, zieht in seiner Freizeit mit einer rowdyhaften Clique umher. Aber bei den drei jüngeren Geschwistern der Familie Al-Ameri - das letzte gerade eingeschult - trägt das veränderte Verhalten des Vaters Früchte: Sie kommen besser in der Schule mit, sind nicht auffällig und gut in die Klassengemeinschaft integriert.

Feuerprobe Corona-Krise

Als im März 2020 wegen der Corona-Pandemie die Schulen geschlossen wurden, kam bei den Fachkräften wieder große Sorge auf: Wird man die Familie Al-Ameri auch weiterhin erreichen können? Wie werden sich die beengten Wohnverhältnisse auf das Familienleben auswirken?

Aber dank der mittlerweile gefestigten Beziehung mit dem Vater konnte der Kontakt auch in der Krise gehalten werden. Zwei Mal wöchentlich riefen Elternbegleiter*innen der Pädagogischen Werkstatt bei der Familie an und brachten persönlich Lern- und Spielmaterialien vorbei. Alle schriftlichen Mitteilungen aus der Schule wurden ins Arabische übersetzt. Die Schule stattete jedes Kind entsprechend seinem Lernfortschritt mit individuellen Materialpaketen aus. Denn wie auch die Al-Ameris verfügen viele Familien in dem sozial benachteiligten Stadtteil nicht über die technische Ausstattung für digitales Lernen zu Hause.

Als nach den Osterferien die Schule erstmals wieder ihre Tore öffnete, atmeten die Lehrer*innen auf: Alle Kinder der Familie Al-Ameri waren erschienen. Und sie trauten ihren Augen kaum: Ahmed Al-Ameri war persönlich mit dabei und plauderte sogar noch mit dem Schulpersonal. Das wäre 2015 undenkbar gewesen.


Die Freudenberg Stiftung initiierte km2 Bildung Fürstenwalde gemeinsam mit der RAA Brandenburg, dem Verein für Jugendhilfe und Sozialarbeit e.V. (JuSeV), der F.C. Flick Stiftung und der Stadt Fürstenwalde/Spree. Die Finanzierung erfolgt durch die Freudenberg Stiftung, F.C. Flick Stiftung und die Stadt Fürstenwalde.