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25. Juli

Ungleichheiten im Privatschulbesuch nehmen zu – es lohnt sich genauer hinzusehen!

Ungleichheiten in der Nutzung von Bildungsangeboten existieren in vielen Bereichen – sie beginnen bereits beim Besuch von Kindertageseinrichtungen (Kita), der Nutzung von
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25.07.2019

Ungleichheiten im Privatschulbesuch nehmen zu – es lohnt sich genauer hinzusehen!

Ungleichheiten in der Nutzung von Bildungsangeboten existieren in vielen Bereichen – sie beginnen bereits beim Besuch von Kindertageseinrichtungen (Kita), der Nutzung von Ganztagsangeboten oder auch bei der Inanspruchnahme bildungsnaher Freizeitangebote und reichen bis hin zum Besuch eines Gymnasiums und einer Hochschule: Für alle diese Angebote gilt, dass Kinder aus sozioökonomisch besser gestellten Familien eher diese Angebote nutzen als Kinder aus sozioökonomisch nicht so gut gestellten Familien, d. h. insbesondere Kinder aus formal bildungsschwächeren Familien nutzen diese Angebote zu einem geringeren Anteil.
Teilweise haben sich diese Unterschiede über die Zeit sogar vergrößert. Dies trifft zum Beispiel auf die Nutzung von Kita-Angeboten von Kindern unter drei Jahren zu – mit dem Ausbau der Kita-Angebote haben die Ungleichheiten in der Nutzung zugenommen: Vom Ausbau haben insbesondere einkommensstärkere Familien profitiert. Bildungsungleichheiten beginnen also sehr früh und setzen sich in vielen Bereichen fort.

Einem Bereich, auf den dies ebenfalls zutrifft, kommt in der medialen Diskussion eine besonders große Aufmerksamkeit zu: dem Privatschulbereich. Und dies obwohl "nur" etwa jede elfte Schüler*n eine Privatschule besucht (9,1 % aller Schüler*innen allgemeinbildender Schulen). Bei Kindern unter drei Jahren ist es immerhin fast jedes dritte Kind, das eine Kita besucht. Ungleichheiten in diesem sehr frühen Bereich finden allerdings sehr viel weniger mediale Aufmerksamkeit. Vermutlich liegt dies auch mit daran, dass vielfach vermutet wird, dass sich formal bildungsstärkere Haushalte über Privatschulen bessere Bildung für ihre Kinder "einkaufen" und sich damit vermehrt aus dem öffentlichen Schulsystem verabschieden. Ob dies der Fall ist, bleibt zu klären. Fest steht in jedem Fall, dass eine Gesellschaft, die als Ziel das gemeinsame Lernen von Kindern aus allen gesellschaftlichen Gruppen verfolgt, gut beraten ist, sich in der Tat den Trend der sozialen Segregation beim Privatschulbesuch genauer anzusehen.

Somit also zu den empirischen Befunden: Tatsächlich ist die Zahl der Privatschulen und der Privatschüler*innen in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen – und dies insbesondere in Ostdeutschland, wo vor der deutschen Wiedervereinigung quasi keine Privatschulen existierten. Vielfach wird davon gesprochen, dass Ostdeutschland somit "aufholen" bzw. "nachholen" musste – gleichwohl dabei implizit vorausgesetzt wird, dass ein bestimmter Anteil an Privatschulen quasi für eine Gesellschaft "gesetzt" ist, was ja wohl eher nicht der Fall ist. Richtig ist vielmehr, dass in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung ein starker Anstieg von einem sehr geringen Ausgangswert zu beobachten ist.

Im Schuljahr 2017/2018 gab es in Deutschland 5.839 allgemeinbildende und berufliche Privatschulen. Dies sind 81 % mehr Schulen als im Schuljahr 1992/1993. Bemerkenswert ist, dass die Anzahl der Privatschulen auch dann zunahm, als die Gesamtzahl aller Schulen Ende der 1990er Jahre aufgrund abnehmender Schüler*innenzahlen zurückging. So hat sich die Zahl der Schulen insgesamt von 2000 bis 2017 um 19 % verringert. Die Anzahl der Privatschulen stieg dagegen im selben Zeitraum um 43 % – so die Zahlen des Statistischen Bundesamtes.

Privatschulen gibt es im Bereich der allgemeinbildenden Schulen und der beruflichen Schulen, wobei der Anteil bei den allgemeinbildenden Schulen mit 11 % deutlich niedriger ist als bei den beruflichen Schulen mit 25 %. Darüber hinaus existieren große regionale Unterschiede: Der Anteil der privaten allgemeinbildenden Schulen war so z. B. in Mecklenburg-Vorpommern mit 19 % am höchsten und in Niedersachsen mit 6 % am niedrigsten. Insgesamt besuchen etwa 1,0 Millionen Schüler*innen eine Privatschule. Auch hier gab es zwischen den einzelnen Ländern deutliche Unterschiede bei den Anteilen der Privatschüler*innen: Die Spanne reicht von 4 % in Schleswig-Holstein bis zu 10 % in Sachsen. Von den Schüler*innen an privaten allgemeinbildenden Schulen wird der größte Teil (36 %) in Gymnasien unterrichtet. Was die Trägerorganisationen der Privatschulen angeht, so machen konfessionelle Schulen den größten Anteil aus (mehrheitlich evangelisch oder katholisch ausgerichtete Schulen), gefolgt von reformpädagogischen Schulen, wie z. B. den Waldorfschulen oder auch Montessorischulen. Daneben existieren internationale Schulen und andere weltanschauliche Privatschulen. Die Privatschullandschaft ist also durchaus bunt.

Eltern entscheiden sich häufig für Privatschulen, da sie dort günstigere Unterrichtsbedingungen vermuten. Ein Indikator hierzu ist die Klassengröße: In Grundschulen, Gymnasien und Förderschulen waren im Schuljahr 2017/18 die Klassen in Privatschulen allerdings nur um etwa eine*n Schüler*in kleiner als in öffentlichen Schulen – das ist kein signifikanter Unterschied. Teilweise wird auch vermutet, dass Privatschulen bessere Lernerfolge erzielen. Wird als Indikator für den Erfolg einer schulischen Ausbildung der erreichte Abschluss genommen, so weist die amtliche Statistik aus, dass der Anteil von Schüler*innen, welche das Abitur erworben haben, für private Gymnasien bei 87 % liegt und bei öffentlichen Schulen bei knapp 86 % – also auch nicht wirklich signifikant unterschiedlich ist. Aktuelle Analysen auf der Basis des IQB-Ländertrends von Klaus Klemm und Kolleg*innen zeigen darüber hinaus, dass die erreichten Kompetenzen von Schüler*innen aus Privatschulen und aus öffentlichen Schulen im Mittel nur geringfügig voneinander abweichen. Lediglich in einigen wenigen Kompetenzbereichen schneiden Privatschüler*innen besser ab. Die Analysen berücksichtigen dabei, dass sich die Schüler*innenschaft dieser Schulen hinsichtlich wichtiger lern- und leistungsrelevanter Merkmale wie sozioökonomischer Status, Familiensprache und Geschlecht unterscheidet.

Eben dies ist die Ungleichheit in der Nutzung der Privatschulen, die sich über die Jahre immer weiter vergrößert hat und die wir eingangs erwähnten. Da sich bei Berücksichtigung dieser Unterschiede die Lernerfolge der Schüler*innenschaft nun aber nicht signifikant unterscheiden, könnte man meinen, dass diese Unterschiede keine Bedeutung haben bzw. von geringerer Relevanz sind. Allerdings geht es nicht nur um die erfassten Lernerfolge, sondern um vielfältige andere Aspekte des gemeinsamen Lernens. Und wie bemerkt entsprechen die sozioökonomischen Unterschiede in der Nutzung gerade in der Grundschule nicht dem Anspruch des gemeinsamen Lernens von Kindern – vielmehr verhindern sie, dass Schule der Ort sein kann, an dem Kinder aus unterschiedlichsten Gruppen miteinander zusammenkommen. Insbesondere die Grundschule erhebt aber diesen Anspruch. Auch die amtliche Statistik zeigt signifikante Unterschiede in der Schüler*innenschaft: Fast 6 % aller ausländischen Schüler*innen besuchten im Schuljahr 2017/18 private Schulen, gegenüber einem Anteil von nahezu 10 % der deutschen Mitschüler*innen. Neben diesen im Querschnitt gemessenen sozioökonomischen Unterschieden in der Nutzung von Privatschulen, die darüber hinaus schon länger bekannt sind, kommt hinzu, dass diese über die Zeit immer weiter zugenommen haben. Und dies ist es, was bei einer Fortschreibung der Trends von besonderer Brisanz ist.

So zeigen Analysen auf der Basis der Längsschnittdaten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) für Kinder, welche allgemeinbildende Schulen besuchen, folgende Befunde: Gemeinsam mit Katja Görlitz können wir mit diesen Daten zeigen, dass die Privatschulnutzung von Schüler*innen aus einkommensstarken Haushalten, in denen die Eltern eine höhere formale Bildung haben, über die Zeit hinweg stärker zugenommen hat als die aller anderen. In West- und Ostdeutschland sind demnach in den letzten Jahren zunehmende Nutzungsunterschiede für Kinder zu beobachten, wenn nach der Bildung der Eltern differenziert wird. Waren die Nutzungsunterschiede im Jahr 1995 noch moderat, so zeigt sich 20 Jahre später, dass in Westdeutschland die Nutzungsquote unter Akademikerkindern auf nahezu 17 % angestiegen ist und im Osten auf etwa 23 %. Der Anstieg der Nutzungsquote anderer Bildungsgruppen liegt deutlich darunter: Bei Kindern von Eltern ohne Berufsabschluss ist sie in Westdeutschland von nahezu 4 auf 7 % angestiegen. In Ostdeutschland ist deren Nutzungsquote in den letzten 20 Jahren sogar um 1,5 Prozentpunkte auf 4 % gesunken. Die Nutzungsdifferenz zwischen Kindern, deren Eltern ein Studium absolviert haben und zwischen Kindern, deren Eltern keinen Berufsabschluss haben, lag 2015 in Westdeutschland bei 10 Prozentpunkten und in Ostdeutschland bei 19 Prozentpunkten, in den Jahren davor war sie sehr viel geringer. Damit wird die soziale Selektion zwischen privaten und öffentlichen Schulen immer größer. In Ostdeutschland trifft dies auch auf die Unterschiede zwischen Kindern aus Haushalten mit sehr hohem und sehr niedrigem Einkommen zu. 2015 besuchten 21 % aller Kinder aus einkommensstarken Haushalten eine Privatschule, während es nur 8 % der Kinder einkommensschwacher Haushalte waren. 1995 war der Privatschulbesuch noch annähernd gleich für beide Gruppen. Diese Zunahme der sozialen Segregation findet sich in Westdeutschland insbesondere im Sekundarschulbereich und in Ostdeutschland vor allem im Grundschulbereich. Diese Entwicklung in Hinblick auf die Bildung und das Einkommen der Eltern lässt sich auch mit komplexeren Analysen bestätigen, welche eine Vielzahl von Faktoren berücksichtigen, die mit dem Besuch einer Privatschule zusammenhängen.

Wenn also eine weitere soziale Segregation zwischen privaten und öffentlichen Schulen verhindert werden soll, müssen sich zum einen private Schulen stärker um Schüler*innen aus formal bildungsschwächeren und in Ostdeutschland auch einkommensschwächeren Haushalten bemühen. Zum anderen müssen öffentliche Schulen wieder attraktiver für Schüler*innen aus Familien werden, in denen die Eltern eine höhere formale Bildung haben. Nur so kann langfristig ein gemeinsames Lernen aller Gruppen erzielt werden. Wie dies erreicht werden kann und welche Akteure dabei gefragt sind ist keine einfache Frage. Ihre Antwort ist vielschichtig und vielfältig. So sind die Schulen, die Schulträger und die Kultusministerien gefragt – die Bildungspolitiker*innen auf allen Ebenen. Eine Möglichkeit könnte es sein, dass alle Bundesländer – wie es einige bereits tun – Höchstbeträge oder einkommensgestaffelte Kostenbeiträge für Schulgelder landesweit festlegen. In Rheinland-Pfalz werden beispielsweise private Schulen nur durch das Land gefördert, wenn sie "kein Schulgeld oder sonstige Entgelte" erheben. Marcel Helbig und Koautor*innen zeigen für das Schuljahr 2015/16 beziehungsweise 2014/2015, dass in Rheinland-Pfalz wie in Berlin – wo es eine solche Regelung nicht gibt – der Anteil von Kindern mit Lernmittelbefreiung in Privatschulen zwar niedriger ist als in öffentlichen Schulen. Der Unterschied ist zwischen privaten und öffentlichen Schulen in Rheinland-Pfalz jedoch vergleichsweise kleiner. Insgesamt sind Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen bisher die einzigen Bundesländer, in denen geringverdienende Eltern keine Schulgebühren zahlen. Wenn aber empfohlen wird, dass Privatschulen stärker als bisher für untere Einkommensgruppen die Gebühren senken, so muss dabei auch bedacht werden, dass für Privatschulen ein gleichberechtigter Wettbewerb mit öffentlichen Schulen möglich bleibt. In Deutschland erhalten private Schulen pro Schüler*in zwei Drittel der staatlichen Förderung, die öffentlichen Schulen zusteht. Dadurch liegt eine Finanzierungslücke vor, die von den privaten Schulen ausgeglichen werden muss. In anderen Ländern, wie beispielsweise Schweden und England, werden staatlich geförderte Privatschulen zu 100 % staatlich finanziert. Und auch in Berlin plant die derzeitige Landesregierung private Schulen stärker zu fördern, wenn diese eine höhere Anzahl von Kindern aus einkommensschwachen Familien aufnehmen.

Entsprechende Regelungen würden demnach sicherstellen, dass einkommensschwache Familien nicht aufgrund zu hoher Kosten die Nutzung von Privatschulen für ihre Kinder ausschließen. Allerdings lassen auch andere Bildungsbereiche vermuten, dass es nicht allein die Kosten sind, welche dazu führen, dass bestimmte Angebote nicht genutzt werden. Vielfach geht es auch darum, über die spezifischen Angebote zu informieren und bei allen Gruppen für diese Angebote zu werben. Darüber hinaus können auch öffentliche Schulen, wie einige es von ihnen bereits tun, durch spezifische Angebote, wie eine verstärkte Sprachförderung oder vielfältige andere Spezialisierungen, bestimmte Schüler*innengruppen wieder zurückgewinnen, die sich durch den Besuch von Privatschulen für ein spezifisches Curriculum entschieden haben. Eine weitere soziale Segregation gilt es bei der Privatschulnutzung durch unterschiedliche Maßnahmen jedenfalls zu vermeiden.

Fest steht aber auch, dass es noch eine Vielzahl weiterer Bildungsbereiche gibt, in denen diese Zunahme in der sozialen Segregation mindestens genauso relevant ist. Insbesondere auf die frühe Bildung sollte vermehrt das Augenmerk gelegt werden, um zu verhindern, dass sich Bildungsungleichheiten über den Lebensverlauf weiterhin addieren. Aber auch andere Bereiche sollten im Detail unter die Lupe genommen werden, wenn es darum geht, einem Anstieg von Bildungsungleichheiten in unterschiedlichen Bereichen entgegenzuwirken.


Diesem Bericht liegen die folgenden Quellen zu Grunde:
Görlitz, Katja, Spieß, C. Katharina und Elena Ziege (2018). Fast jedes zehnte Kind geht auf eine Privatschule: Nutzung hängt insbesondere in Ostdeutschland zunehmend vom Einkommen der Eltern ab. DIW-Wochenbericht, 85(51/52), 1103-1111.
Helbig, Marcel, Nikolai, Rita und Michael Wrase (2017). Privatschulen und die soziale Frage: Wirkung rechtlicher Vorgaben zum Sonderungsverbot in den Bundesländern. Leviathan: Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft, ISSN 1861-8588, Nomos, Baden-Baden,Vol. 45, Iss. 3, pp. 357-380.
Helbig, Marcel und Michael Wrase (2017). Übersicht über die Vorgaben zur Einhaltung des Sonderungsverbots in den Bundesländern: Aktualisierte und ergänzte Fassung auf der Grundlage der in NVwZ 2016 entwickelten Kriterien. WZB Discussion Paper, No. P 2017-004.
Klemm, Klaus, Hoffmann, Lars, Maaz, Kai und Petra Stanat (2018). Privatschulen in Deutschland. Trends und Leistungsvergleiche. Friedrich-Ebert-Stiftung.
Nikolai, Rita und Michael Wrase (2017). Faire Privatschulregulierung: Was Deutschland vom europäischen Vergleich lernen kann. WZBrief Bildung, No. 35.
Statistisches Bundesamt (2018). Private Schulen Schuljahr 2017/2018. Fachserie 11 Reihe 1.1, Wiesbaden.

Prof. Dr. C. Katharina Spieß und Elena Ziege, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin