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10. November

Bosnien und Herzegowina ist in Gefahr zu zerbrechen. Die Geschichte darf sich nicht wiederholen!

Bosnien ist in Gefahr auseinanderzubrechen, so groß wie jetzt war die Bedrohung seit dem Krieg noch nie. Im schlimmsten Fall droht ein neuer Krieg.
Hintergrund Im Dezember 1995 beendete das Daytoner Friedensabkommen den blutigen und grausamen Krieg in Bosnien und ...weiterlesen
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10.11.2021

Bosnien und Herzegowina ist in Gefahr zu zerbrechen. Die Geschichte darf sich nicht wiederholen!

Bosnien ist in Gefahr auseinanderzubrechen, so groß wie jetzt war die Bedrohung seit dem Krieg noch nie. Im schlimmsten Fall droht ein neuer Krieg.

Hintergrund

Im Dezember 1995 beendete das Daytoner Friedensabkommen den blutigen und grausamen Krieg in Bosnien und Herzegowina. Es wurden zwei Entitäten gebildet, die Föderation und die Serbische Republik. Drei Präsidenten, je einer aus den verschiedenen konstitutiven Völkern (Kroat*innen, Serb*innen, Bosniak*innen) vertreten das Land. Viele weitere komplizierte Strukturen sichern das Gleichgewicht zwischen den drei konstitutiven Völkern.
Die ersten Jahre nach dem Abkommen erholte sich Bosnien langsam von den Kriegsschrecken, ein Wiederaufbau begann. Doch seitdem im Jahr 2006 die schon beschlossen geglaubte Verfassungsreform scheiterte, nimmt der Nationalismus wieder zu, die wirtschaftlichen Bedingungen werden schlechter, die Parteien greifen auf alle Strukturen zu, Korruption und Nepotismus nehmen überhand. Viele Menschen in Bosnien versuchen, sich diesen Entwicklungen zu widersetzen, doch die Spaltungstendenzen sind momentan stärker als die Versöhnungsbemühungen.

Regionale und internationale Rahmenbedingungen

Noch vor Kriegsbeginn 1992 hatten sich der serbische Präsident Milošević und der kroatische Präsident Tudjman verabredet, Bosnien zu teilen. Sie träumten von einem "Groß-Serbien" bzw. "Groß-Kroatien". Und diese Träume leben weiter.

Schon seit dem Jahr 2011 wiederholt Milorad Dodik – damals Präsident der Serbischen Republik und heute serbisches Mitglied im 3-köpfigen Präsidium – in regelmäßigen Abständen, dass die Serbische Republik sich von Bosnien und Herzegowina abspalten wird, um sich mit Serbien zu vereinigen. Rückenwind gibt es auch durch Serbien. Es wird dort zwar nicht mehr von einem Großserbien geredet, aber von der "serbischen Welt" ("srbski svet", s. dazu Erich Rathfelder in der Taz). So ist es Serbien gelungen, in Montenegro mit Hilfe der orthodoxen Kirche eine proserbische Regierung zu etablieren, es wurden die jüngsten Eskalationen im Kosovo provoziert und jetzt wird Dodik in der Serbischen Republik nicht gestoppt.

Im Juni diesen Jahres sind in der EU die sogenannten "Non-Papers" aufgetaucht, in denen eine neue Aufteilung der Balkanstaaten einschließlich Bosnien und Herzegowinas, des Kosovos, Mazedoniens und Albaniens vorgeschlagen wird. Eine bis dahin nie dagewesene Provokation.
Die neuen Spaltungstendenzen in Bosnien und Herzegowina werden begünstigt von der Schwäche der EU und der USA, die Raum lässt für eine russische Unterstützung der serbischen Ideen.

Den neuen Hohen Repräsentanten Christian Schmidt erkennen weder Russland noch Milorad Dodik an. Sie behaupten, ohne Anerkennung durch die UN sei der Hohe Repräsentant nicht legitimiert. Der Hohe Repräsentant wird jedoch vom Friedensimplementierungsrat bestellt, in dem Russland überstimmt wurde.

Dennoch durfte Christian Schmidt bei der UN-Versammlung am 3. November 2021 seinen Bericht zur Situation in Bosnien nicht vortragen. Die EU und die USA hatten diesem Anliegen Russlands zugestimmt, um von Russland die Zustimmung zur Verlängerung des Einsatzes der EU-Truppen (EUFOR) zu erhalten.

Das sind die Rahmenbedingungen: die serbische und russische Unterstützung der Spaltungstendenzen auf der einen Seite und die Schwäche von EU und USA auf der anderen. (Auf das Fehlen der deutschen Unterstützung für den deutschen Hohen Repräsentanten soll hier gar nicht eingegangen werden.) Weiter hinzu kommt die kroatische Unterstützung für Blockaden der kroatischen Nationalist*innen in der Föderation, z. B. im Hinblick auf das Wahlgesetz.

Lokale Rahmenbedingungen

Am 23. Juli 2021 hat der scheidende Hohe Repräsentant Valentin Inzko ein Gesetz erlassen, welches das Leugnen des Genozids in Srebrenica unter Strafe stellt. Milorad Dodik hat sofort erklärt, dass er dieses Gesetz nicht anerkennt. Als Reaktion auf das Gesetz wurden alle serbischen Repräsentant*innen aus den gemeinsamen staatlichen Institutionen zurückgezogen. Das Parlament und andere Entscheidungsgremien funktionieren nicht mehr.

Seitdem wird daran gearbeitet, die Serbische Republik weiter abzuspalten. Dodik plant die Armee, Steuern und die Justiz aus dem Gesamtstaat zu lösen und parallel serbische Institutionen zu schaffen. Ein erstes Gesetz, zum Austritt aus der gemeinsamen Arzneimittelbehörde, wurde schon verabschiedet, aber noch nicht veröffentlicht.
In seinem Bericht für die UN hat der Hohe Repräsentant die Situation in Bosnien als äußerst kritisch beschrieben und dafür Milorad Dodik verantwortlich gemacht. Dieser gab gleich nach der UN-Versammlung eine Pressekonferenz, in der er dem Hohen Repräsentanten wiederum die Legitimität absprach und drohte, ihn zu verklagen, falls er Gesetze erlässt oder Personen absetzt. Denn noch immer hat der Hohe Repräsentant das Recht Politiker*innen abzusetzen, die gegen den Dayton-Vertrag verstoßen.

Zusätzlich zu den Abspaltungstendenzen von Milorad Dodik gibt es noch die Diskussionen um ein neues Wahlgesetz. Schon vor Jahren hatte der europäische Gerichtshof entschieden, dass das Wahlgesetz Bosniens reformiert werden muss, da als Präsident*innen nur Vertreter*innen aus der serbischen, kroatischen und bosniakischen Volksgruppe gewählt werden können. Dies ist eine Diskriminierung anderer Bürger*innen wie z. B. der Jüd*innen oder der Rom*nja. Jetzt versuchen vor allem die Kroat*innen die Diskussionen zu nutzen, um bei Wahlen eine eigene Wahleinheit nur aus Kroat*innen zu bilden. Dies wird wiederum von den Bosniak*innen als einen weiteren Schritt in Richtung Aufteilung des Landes empfunden.

Konsequenzen

Welche Konsequenzen ein Zerfall Bosniens hätte, scheint absehbar. Nicht auszuschließen sind erneute kriegerische Auseinandersetzungen. Auch neue Grenzen des Kosovos und Nordmazedoniens wären nicht mehr indiskutabel. Neben Ländern wie Russland wären auch Ungarn (dessen Präsident gerade Milorad Dodik besuchte) und andere illiberale Demokratien gestärkt. Auch die EU wäre im Kern gefährdet.

Welche Möglichkeiten gibt es, das Land wieder zu stabilisieren?

Insgesamt brauchen die Integrationsprozesse im Westbalkan eine größere Aufmerksamkeit und Unterstützung. Mittelfristig sind Verhandlungen mit allen Parteien notwendig, es müssen Kompromisse gefunden und endlich eine umfassende Verfassungsreform erwirkt werden. Dafür muss jetzt Druck aus der Situation genommen werden. Der Hohe Repräsentant benötigt internationale Unterstützung (vor allem durch Deutschland und die EU), um seine Möglichkeiten und Kompetenzen zu nutzen und zu einem Vermittler werden zu können. Daneben können einzelne Länder (oder die EU) Sanktionen gegen Personen wie Milorad Dodik und seine Unterstützer*innen verhängen.

Autorin des Artikels ist Dr. Monika Kleck, langjährige Kennerin der Region, mit der die Freudenberg Stiftung eng im Rahmen ihres Engagements in Bosnien und Herzegowina und der Republik Nordmazedonien zusammenarbeitet. Die Freudenberg Stiftung unterstützt die demokratische Gemeindeentwicklung in Tuzla/Bosnien seit 1999 und ist Partnerin der Bürgerstiftung Tuzla und des Schulnetzwerks MIOS.